An der Schwelle einer neuen Zeit

Freitag, 29. September 2023
Foto: Ranga Yogeshwar

Zu keiner Zeit in der Geschichte gab es so viele grundlegende und tiefgreifende Veränderungen wie heute. Das führt immer wieder zu neuen Rahmenbedingungen. Der Wissenschaftsjournalist und Autor Ranga Yogeshwar zeigt die Herausforderungen auf, aber auch Möglichkeiten und Chancen, die Gegenwart zu gestalten.

Herr Yogeshwar, die Welt ist im Wandel. Was sind die Treiber dieses Wandels?
Ranga Yogeshwar: Wir befinden uns momentan inmitten einer globalen Umbruchsphase. Die digitale Revolution, Fortschritte in der Gentechnik oder die Entwicklungen der künstlichen Intelligenz greifen auf fundamentale Weise in unser Leben ein. Disruptive Umbrüche vollziehen sich vor unseren Augen und bedrohen und verändern ganze Branchen, aber auch Lebensmodelle und ganz konkret unseren Alltag. Interessanterweise fehlt oft das echte Bewusstsein dafür. Wir merken, da verändert sich etwas, aber wir verstehen nicht den grösseren Kontext.
 
Können Sie das näher erklären?
Ranga Yogeshwar: Die Welt meiner Kindheit wurde noch von Industrienationen aus Europa und den USA regiert. Man konnte alles, was wir an Ressourcen brauchten, importieren, ohne grosse Probleme. Das hat sich geändert. Jetzt haben wir Player wie China und Indien, die zu grossen Wirtschaftsnationen geworden sind. Das bemerkten wir im Kontext der Corona-Pandemie, als wir dann feststellen mussten, dass ein grosser Teil der Medikamente in Indien gefertigt wird. Oder Stichwort Lieferketten: Den meisten wurde irgendwann bewusst, dass China die Werkbank der Welt ist. Wir leben in einem Umbruch, wo die eurozentrierte Welt, die wir 400 Jahre gelebt haben, gerade dabei ist, sich zu einer in wenigen Jahrzehnten wahrscheinlich eher asiatisch geprägten Welt von neuen Industrienationen zu wandeln. Viele von uns leben aber immer noch in dieser alten Welt, bei der wir das Gefühl haben, Made in Germany ist das Einzige, was zählt, begreifen nicht, dass sich das inzwischen ändert. 
 
Das heisst, die Karten werden neu gemischt?
Ranga Yogeshwar: Das heisst, wir kommen in eine Welt, bei der Spielregeln sich ändern und diese bis dahin unerschöpfliche Natur an ihre Grenzen kommt. Das hören wir zwar allenthalben, aber dass das unser Leben anfangen wird massiv zu prägen, ist den meisten überhaupt nicht bewusst. Wir leben immer noch in einer Welt, die uns andere Geschichten erzählt. Milchpackungen erinnern ein bisschen an Kinderbücher. Der glückliche Bauernhof hat aber nichts mit der eigentlichen Herstellung zu tun. Der entscheidende Punkt ist, die Realität zu sehen und diese auch adäquat zu gestalten. 
 
Inwiefern betrifft dies unser Ernährungssystem?
Ranga Yogeshwar: Die Natur war immer der Lieferant unserer Lebensmittel. Wir merken, dass das schon heute brüchig geworden ist, weil wir die Natur massiv mit sowohl Chemie, Herbiziden als auch genetischen Produkten stabilisieren müssen, damit wir uns überhaupt ernähren können. In dem Kontext stellt sich die Frage: Wird es möglich sein, in drei Jahrzehnten, eine Landwirtschaft zu betreiben, ohne, dass sie Blüten braucht? 
 
Wie ist es vor diesem Hintergrund um unsere Zukunft bestellt? 
Ranga Yogeshwar: Die Haltung zum Fortschritt war in der Vergangenheit immer geprägt durch Rahmenbedingungen, die stabil waren. Nehmen wir ein Beispiel aus der Arbeitswelt. Der Vater arbeitete bei Siemens, die zweite Generation auch. Das hat sich durch eine komplett liquide Welt verändert. Die Dynamik muss man als solche begreifen und sich verdeutlichen, dass dies eine neue Art des Denkens erfordert. Wenn aber unbewusst die Forderung nach Stabilität und Konstanz verinnerlicht ist, dann wirkt jeder Fortschritt verunsichernd. Es ist eine Frage der Perspektive und Haltung.
 
Was braucht es, um den Wandel gestalten zu können?
Ranga Yogeshwar: Die Dynamik der Entwicklung ist so, dass vieles von dem, was ich gestern noch gelernt habe, heute obsolet ist. Am Beispiel Künstliche Intelligenz sieht man das deutlich. Jetzt kann man sagen, das ist verunsichernd oder man kann sagen, ja das ist das Neue. Die Offenheit ist dabei wichtig. Wir kommen aus einer Bewahrungshaltung heraus und bei aller Angst des Loslassens geht es darum – wie Picasso es einmal formulierte – die Gnade des Gehaltenseins im Offenwerden neuer Möglichkeiten zu erfahren. Es geht also darum, die Chancen zu sehen und das sollten wir viel stärker in unserer Kultur verankern.
 
Was ist dabei der Knackpunkt?
Ranga Yogeshwar: Der wesentliche Punkt ist, Chancen überhaupt zu erkennen. Chancen sind wie Geschenke, man muss sie nur erkennen und dann nutzen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Home-Office. Die Corona-Pandemie hat uns gezwungen, von zu Hause aus zu arbeiten. Dadurch konnten Kinder ihre Eltern häufiger sehen, und diese konnten sich besser um sie kümmern. Also kann man durchaus sagen, das ist in der Regel qualitätsförderlich. Es gibt Chancen und wenn man sie nutzt, entsteht etwas Positives. Bei dem Ganzen geht es darum, dass ein Bewusstsein für den schnellen Wandel auch da ist.
 
Ist denn dieses Bewusstsein da?
Ranga Yogeshwar: Wir haben in Europa eine Kultur des Bewahrens und der Tradition. In China hat der Umbruch wiederum eine andere Konnotierung. Wenn man 100 Chinesen die Frage stellt «Freust du dich auf die Zukunft?», dann erhält man zur Antwort: «Ja, denn sie wird besser als meine Gegenwart.» Wenn man 100 Deutschen die gleiche Frage stellt, bekommt man zur Antwort: «Nein, denn so gut wie heute wird es unseren Kindern nicht mehr gehen.» Die Haltung ist geprägt durch die jeweilige gesellschaftliche Situation. China erlebt ein Wirtschaftswunder wohingegen wir in Deutschland aus einer Wohlstandsperspektive heraus argumentieren. 
 
Welche Chance eröffnet der Wandel der Gesellschaft?
Ranga Yogeshwar: Wandel geht schnell voran, und das hat einen enormen Vorteil in Bezug auch auf unsere heutige Generation, weil wir erstmals überhaupt in der Geschichte der Menschheit unsere Gegenwart aktiv gestalten können. Noch vor hundert Jahren hat es sehr lange gedauert, bis Innovationen wie etwa die Elektrifizierung bei der Bevölkerung ankam. Eine digitale Innovation wie etwa ChatGPT konnte innerhalb von zwei Monaten rund 100 Millionen Nutzer generieren. Das sind Explosionen, aber man kann es auch positiv formulieren, denn es zeigt sich, dass wir konkret was ändern können. Das ist ein Beleg dafür, dass wir nicht gezwungen sind, in einer trägen Zeit zu leben, bei der man nichts tun kann. Es ist das Gegenteil davon. Wir sind die erste Generation, die unsere Gegenwart gestaltet. Und der Appell an die Gesellschaft lautet: Also lasst uns das tun! 
 
Welche Werte braucht es hierfür?
Ranga Yogeshwar: Ich glaube, dass zum Beispiel ein Wert Empathie heissen könnte. Empathie sowohl mit der Natur als auch Empathie mit anderen Menschen – und auch in der Umkehrung, die Forderung nach Empathie für einen selbst.
 
 
 

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Zur Person

 
Ranga Yogeshwar wurde 1959 in Luxemburg als Sohn eines indischen Ingenieurs und einer luxemburgischen Künstlerin geboren. Seine frühe Kindheit verbrachte er überwiegend in Indien. Nach seinem Abitur in Luxemburg studierte er Experimentelle Elementarteilchenphysik und Astrophysik und arbeitete am Schweizer Institut für Nuklearforschung (SIN), am CERN in Genf und am Forschungszentrum Jülich. Yogeshwar erhielt über 60 Fachpreise und wurde vielfach ausgezeichnet, so etwa mit der Ehrendoktorwürde der Universität Wuppertal, dem Bundesverdienstkreuz der BRD, dem Verdienstorden des Landes NRW und dem Ordre de Mérite du Grand-Duché de Luxembourg. Zu seinen Auszeichnungen erklärt er: «Auszeichnungen sind kein Ziel, vielmehr geht es mir um die Leidenschaft für die Sache.» Der Wissenschaftsjournalist, Moderator und Autor ist Vater von vier Kindern und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Köln.