Baustellen im Handel

Freitag, 06. Oktober 2017
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Der deutsche und schweizerische Handel haben in Sachen Digitalisierung noch Nachholbedarf, wie eine Studie offenlegt. Bei Innovation und Kundenorientierung steht die digitale Transformation noch am Anfang.

Viele Unternehmen stecken mitten in der digitalen Transformation. Dies bestätigt der aktuelle «Digital Maturity & Transformation Report», der neben anderen Branchen auch Handelsunternehmen aus Deutschland und der Schweiz auf ihre digitale Reife hin untersucht hat. Das Thema ist brandaktuell: «In diesem Jahr kamen auf unseren Fragebogen so viele Rückmeldungen wie noch nie», sagt Dr. Andrea Back, die als Professorin an der Universität St. Gallen und Direktorin des Instituts für Wirtschaftsinformatik IWIHSG den Report miterstellt hat.

Die Händler kennen ihre Defizite

Der digitale Reifegrad wird anhand von neun Dimensionen (s. Infografik) ermittelt. Der durchschnittliche Reifegrad der 452 von der Studie erfassten Unternehmen fällt zwar etwas höher aus als 2016, aber die Zahl der Unternehmen mit einem unterdurchschnittlichen Reifegrad ist immer noch mehr als dreimal so gross wie die der überdurchschnittlich guten. Und: Die geringsten Reifegrade weisen Unternehmen aus dem Gross- und Einzelhandel auf. Deren Ergebnisse sind sogar gegenüber dem Vorjahr zurückgefallen. Die Verantwortlichen in den 44 befragten Handelsunternehmen scheinen die eigene Lage realistisch einzuschätzen. So liegt der Anteil derer, die sich selbst als überdurchschnittlich aktiv einschätzen, im Handel nur bei 46 Prozent.

Die Mehrheit der deutschen Handelsunternehmen konzentriert sich bei ihren Massnahmen auf eine weitere Verbesserung ihrer digitalen Kundenschnittstelle. Diese spielt eine zentrale Rolle in der Digitalisierung und wird in vielen Unternehmen auch in hohem Masse von den veränderten Anforderungen der Kunden angetrieben. Zudem fällt auf, dass in deutschen Handelsunternehmen die Befragten überdurchschnittlich stark auf den sogenannten «Top-down-Ansatz» setzen, bei dem die Entwicklung der Strategie an erster Stelle steht. Die Studie zeigt deutlich, dass deutsche Händler künftig in erster Linie Projekte in der Dimension Customer Experience vorantreiben wollen.

Hierzu nennen die Teilnehmenden die Professionalisierung von Online-Marketing-Aktivitäten oder auch Massnahmen im Bereich Social Media. Aktivitäten bei der Produktinnovation, Prozessdigitalisierung und beim Transformationsmanagement werden in Zukunft ebenfalls eine grössere Rolle spielen. Weniger relevant werden dagegen Projekte zur Erstellung einer digitalen Strategie oder zur Veränderung von Teamstrukturen innerhalb der Organisation sein (mehr Details dazu auf S. 14 INFO).

Customer Experience gefragt

Schweizer Unternehmen aus dem Handel und der Konsumgüterwirtschaft zeigen im Vergleich zum Gesamtfeld  der Teilnehmenden die niedrigsten Reifegrade. Auffällig aus Sicht der Studienautoren sind die geringen Erfüllungsgrade in der Dimension Customer Experience, «da Kriterien wie die Auswertung von digitalen Interaktionsdaten oder die Entwicklung eines kanalübergreifenden Experience Designs gerade im Handel eine grosse Rolle spielen». Aber auch in den Dimensionen Strategie, Produktinnovation und Transformationsmanagement sind die Unterschiede zu anderen Branchen besonders hoch. In der Frage, wie Schweizer Händler die digitale Transformation anpacken, zeigt sich kein einheitliches Bild. «Viele Teilnehmende (18 %) wissen auf diese Frage auch keine Antwort », heisst es in der Studie.

Auch der hohe Anteil an Schweizer Handelsunternehmen, die einen so genannten «Bottom-up»-Ansatz verfolgen, zeigt, dass bei ihnen die digitale Transformation nur in geringem Masse ein von Beginn an strategisch geplanter sowie gesteuerter Prozess ist. Beim «Bottomup»-Ansatz entstehen an verschiedenen Stellen im Unternehmen digitale Initiativen, die erst nach einer gewissen Zeit zusammengeführt und dann in einer gemeinsamen Strategie konsolidiert werden. Auch ein innovationsfokussierter Ansatz, welcher sich durch eine frühe Experimentierfreude mit den neuen Technologien auszeichnet, wird dabei nur selten beobachtet.

Nachhaltiger Wandel nicht als Muss erkannt

Immerhin: Für Schweizer Handelsunternehmen steht – wie auch in Deutschland – das Thema Customer Experience in Zukunft an oberster Stelle. 65 Prozent der Teilnehmer geben an, dass in diesem Bereich in den nächsten zwei Jahren mit Priorität Aktivitäten vorangetrieben werden.

Auch die Prozessdigitalisierung steht weiterhin klar im Fokus. Abnehmen wird dagegen vor allem die Priorisierung von Initiativen zur Organisations-Struktur und Strategie-Definition. Zu denken gibt dieses Statement aus einem Schweizer Handelsunternehmen: «Innovation hat nur unter dem Aspekt Kostendruck eine hohe Priorität. Nachhaltiger Wandel wird nicht als Muss erkannt.»

News

Foto: Stefanie Brückner

Vom 24. bis 25. April findet das 125. Markant Handelsforum statt. Zu erwarten sind neben zeitaktuellen Vorträgen und Innovationen für den POS auch ein praxisnaher Austausch.

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Tegut hat das Jahr 2023 mit einem Nettoumsatz von 1,28 Milliarden Euro abgeschlossen und damit das Ergebnis des Vorjahres um 2,44 Prozent übertroffen.

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Nach einem Einbruch zu Jahresbeginn stabilisiert sich die Konsumstimmung in Deutschland jetzt wieder.

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In Österreich können biologische Lebensmittel trotz allgemeiner Teuerungen auf treue Verbraucher zählen.

Info

Der «Digital Maturity & Transformation Report 2017» wird vom Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen und der Unternehmensberatung Crosswalk erstellt. Der Report  beleuchtet dieses Jahr zum dritten Mal die digitale Reife von Unternehmen in der DACHRegion, darunter Handelsunternehmen aus der Schweiz und Deutschland. Seine Grundlage basiert auf dem von der Universität St. Gallen gemeinsam mit Crosswalk entwickelten «Digital Maturity Model». Dieses wissenschaftliche Modell beinhaltet einen Katalog mit 64 Einzelkriterien, anhand derer sich die digitale Reife eines Unternehmens in neun Dimensionen ermitteln lässt. Die Studie bietet allen, die sich auf dem Weg der Erkundung, Planung und Umsetzung der digitalen Transformation befinden, fachliche Einblicke, die Möglichkeit zur Standortbestimmung und konkrete Hinweise für den eigenen Weg.

Download unter: https://crosswalk.ch/dmtr2017

 

Info

Werden Entscheidungsträger mit der digitalen Transformation konfrontiert, dann denken sie an verschiedene «Handlungsfelder». Daher sind häufig grosse Unterschiede zu beobachten, wie Unternehmen die digitale Transformation anpacken: In manchen Unternehmen ist die IT dafür zuständig, in anderen der Vertrieb. In der Forschungsarbeit am Lehrstuhl von Prof. Dr. Andrea Back an der Universität St. Gallen wurden fünf Ansätze identifiziert, wie Unternehmen ihr digitales  Transformationsprogramm anstossen und welcher Fokus dabei gesetzt wird:

TOP DOWN:
Getrieben durch die Führungsebene. Fokus auf der Erstellung und Umsetzung einer digitalen Transformationsstrategie.

BOTTOM-UP:
Getrieben durch Initiativen der Mitarbeitenden im Unternehmen. Wichtigster Fokus auf der Konsolidierung von bestehenden Initiativen.

IT-FOKUS:
Getrieben durch die Anforderungen an die IT. Hauptaugenmerk auf die Erneuerung und Bereitstellung geeigneter ITInfrastruktur und -systeme.

KANAL-FOKUS:
Getrieben durch die digitalen  Kundenerwartungen. Fokus auf der Erneuerung und Verbesserung der digitalen Kanäle.

INNOVATIONS-FOKUS:
Getrieben durch Experimentierfreude oder bei Gefährdung des bestehenden Geschäftsmodells. Hauptfokus auf dem Ausprobieren neuer Technologie und Erarbeitung möglicher neuer Geschäftsmodelle.

 

Info

Deutscher Handel forciert Customer Experience

Wie weit die Digitale Transformation speziell im deutschen Handel fortgeschritten ist, beleuchten das ECC Köln und die Intershop Communications AG im Rahmen des «Digital Maturity & Transformation Report 2017» genauer. Dazu wurden 57 deutsche Handels- und Konsumgüterunternehmen befragt. Ergebnis: Über alle untersuchten Dimensionen hinweg zeigen diese einen «deutlichen digitalen Nachholbedarf». In puncto Customer Experience, Produktinnovation und Zusammenarbeit sind die aktuellen Erfüllungswerte mit 33 bis 39 Prozent besonders niedrig. Das heisst: Die Digitale  Transformation relevanter Prozesse und Angebote in diesen Bereichen steht noch am Anfang. In Sachen Customer Experience zählen dazu zum Beispiel ein kanalübergreifend einheitliches Einkaufserlebnis und die personalisierte Kundenkommunikation anhand von Kundendaten.

«Die Digitale Transformation steht in deutschen Handelsunternehmen an vielen Stellen noch am Anfang. Es ist wichtig, dass jedes Unternehmen jetzt für sich identifiziert, wo der grösste Bedarf besteht, Prozesse und Angebote zu digitalisieren – und wo die Digitalisierung das grösste Potenzial bietet, Kundenwünsche besser zu bedienen und sich am Markt zu positionieren», kommentiert Dr. Kai Hudetz, Geschäftsführer des IFH Köln, die Studienergebnisse.

Digitalisierungsprojekte werden aktuell besonders im Bereich Customer Experience vorangetrieben. In den vergangenen zwei Jahren hat knapp die Hälfte der befragten Unternehmen solche Projekte priorisiert, zukünftig wollen zwei von drei Handelsunternehmen einen Schwerpunkt auf Customer Experience legen. Auch die Prozess-Digitalisierung soll weiter verstärkt im Fokus stehen.